Ein Buch, das man liebt, darf man nicht leihen, sondern muss es besitzen.
Friedrich Nietzsche
Buchtipps des Monats - Winter 2021
In der Gegend gilt er als Besessener, »besessen nicht allein von einem, sondern von mehreren, vielen, gar unzähligen Dämonen«. Tags geht er, der eigentlich Obstgärtner ist, durch den Ort. Leise redet er in Zungen in einer nichtexistierenden Sprache, erschreckt die Dorfbewohner mit Beschimpfungen und Schmähreden, mit Orakelsprüchen. Nur die Schwester hält zu ihm, die Eltern leben schon lang nicht mehr. Sie beobachtet, wie er anderen Lebewesen, Tieren zuspricht, und will nicht wahrhaben, dass er wie aus der Kehle eines Engels singt. Sie folgt ihm, auch an den See »mit dem anderen Land an dem Ufer gegenüber« - dort blickt ihn ein Mann an, wie er »noch keinmal von einem Menschen angeblickt worden war«, und da fahren die Dämonen aus ihm heraus. So macht er sich, »nach einem freilich langgezogenen Abschied, auf den Weg hinüber ins andere Land«.
Peter Handke erzählt von Dämonen, die ihren Schrecken verlieren im Blick desjenigen, der sagt: »Da bist du mir ja wieder, mein Freund!« Im Moment, in dem der Besessene so ist, wie er da war. Er erzählt von einer poetischen Verwandlung, einer Befreiung, die neben den Harmonien das »unausrottbar Widerständige« bewahrt; denn: »Ohne es wird nichts. Ohne es nichts als Dasein, Dortsein, und ewig unbeseeltes Sein.«
Bombay, 1764. Indien stand nicht auf dem Reiseplan und Elephanta, diese struppige Insel voller Schlangen und Ziegen und Höhlen mit den seltsamen Figuren an den Wänden, schon gar nicht. Doch als Forschungsreisenden in Sachen "biblischer Klarheit" zieht es einen eben an die merkwürdigsten Orte. Carsten Niebuhr aus dem Bremischen ist hier gestrandet, obwohl er doch in Arabien sein sollte. Ebenso Meister Musa, persischer Astrolabienbauer aus Jaipur, obwohl er doch in Mekka sein wollte. Man spricht leidlich Arabisch miteinander, genug, um die paar Tage bis zu ihrer Rettung gemeinsam herumzubringen. Um sich öst-westlich misszuverstehen und freundlich über Sternbilder zu streiten (denn wo der eine eine Frau erkennt, sieht der andere lediglich deren bemalte Hand). Es könnte übrigens alles auch ein Fiebertraum gewesen sein. Doch das steht in den Sternen.
Nach dem internationalen Erfolg von «In Zeiten des abnehmenden Lichts» kehrt Eugen Ruge in seinem gefeierten Spiegel-Bestseller «Metropol» zurück zur Geschichte seiner Familie. Moskau, 1936. Die deutsche Kommunistin Charlotte bricht mit ihrem Mann und der jungen Britin Jill auf zu einer mehrwöchigen Reise durch die neue Heimat Sowjetunion. Es verbindet sie mehr, als sich auf den ersten Blick erschließt: Sie sind Mitarbeiter des Nachrichtendienstes der Komintern, wo Kommunisten aller Länder beschäftigt sind. Umso schwerer wiegt, dass unter den «Volksfeinden», denen gerade in Moskau der Prozess gemacht wird, einer ist, den Lotte besser kennt, als ihr lieb sein kann.«Metropol» folgt drei Menschen auf dem schmalen Grat zwischen Überzeugung und Wissen, Loyalität und Gehorsam, Verdächtigung und Verrat. Ein gewaltiger Tatsachenroman.
Im Sommer tummeln sich wohlhabende Städter auf dem Hochplateau an der polnisch-tschechischen Grenze. Im Winter fliehen die allermeisten Einwohner den windumtosten Ort. An den langen dunklen Tagen widmet sich Janina Duszejko der Astrologie und der Lyrik des von ihr verehrten William Blake. Man hält die ältere Dame für verschroben, wenn nicht gar für ver- rückt, auch weil sie die Gesellschaft von Tieren der von Menschen vorzieht. Dann gibt es einen Toten. Janinas Nachbar Bigfoot ist grausam erstickt: In seiner Kehle steckt der Knochen eines Rehs. Und es bleibt nicht bei einer Leiche. Janina ermittelt auf eigene Faust. Kriminalfall, philosophischer Essay, Fabel, literarisches Spiel - auf ebenso komische wie ergreifende Weise zei- gen Olga Tokarczuk und ihre hinreißende Heldin, wie sehr es unserer Gesellschaft an Respekt mangelt, ob der Natur und den Tieren gegenüber oder jenen Menschen, die am Rande stehen.
"Jeden Tag entscheiden wir, ob wir die weiße Flagge der Kapitulation aus dem Fenster hängen oder den von kühnen Farben strotzenden Gobelin eines Gedichts", sagt Zagajewski. Asymmetrie ist das Leitmotiv seiner neuen Gedichte, ob in der Beziehung zwischen früher und heute, Frieden und Krieg, Polen und Deutschen, Lebenden und Toten. Einige seiner schönsten Gedichte erzählen von der Asymmetrie zwischen dem Sohn und seiner lange verstorbenen Mutter. "Das Wunderbare ist schüchtern geworden, es ist schwer zu finden, schwer zu erinnern, festzuhalten." Adam Zagajewski findet das Wunderbare im Alltäglichen und macht daraus große Poesie.
- Erich Kästner
- Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941 - 1945
- Atrium 2021
- ISBN 978-3-03882-026-0
- € 16.00

Erich Kästners geheimes Kriegstagebuch. Nachdem Erich Kästner von den Nazis als Autor verboten worden war, entschloss er sich, ein geheimes Tagebuch zu führen. Dazu griff er auf ein blau eingebundenes, unbeschriftetes Buch zurück, das er zwischen den anderen viertausend Bänden seiner Bibliothek versteckte. Von 1941 bis zum Kriegsende schrieb Kästner auf, was sich an der Front und in Berlin ereignete. Seine Aufzeichnungen aus einem zunehmend von Stromsperren und Bombenangriffen geprägten Alltag sind ein einzigartiges Zeitdokument und ein erschütternder Bericht aus dem Inneren des 'Dritten Reichs'.