Wer Bücher schenkt, schenkt Wertpapiere.
Erich Kästner
Buchtipps des Monats - Frühjahr 2013
Ein alter Mathematikprofessor, dessen brillante Karriere nach einem geheimnisvollen Unfall ein abruptes Ende fand, lebt zurückgezogen auf dem prächtigen Anwesen seiner Schwägerin. Seit seinem Unfall währt sein Kurzzeitgedächtnis nur mehr achtzig Minuten, danach kann er sich an nichts mehr erinnern. Acht Haushälterinnen hat seine Schwägerin bislang eingestellt und jede schon nach kurzer Zeit wieder entlassen. Aber mit Nummer neun wird alles anders. Rasch gewinnt sie das Vertrauen des Professors, der auch ihren zehnjährigen Sohn sofort ins Herz schließt. Einfühlsam führt der Professor die beiden in die faszinierende Welt der Mathematik ein. Und mit jeder neuen Gleichung, mit jeder neuen Formel entstehen zwischen ihnen Bande, die stärker sind als der Verlust der Erinnerung - bis die Schwägerin des Professors dem ein plötzliches Ende setzt.
Die Canyons in den USA: eine Welt voller Einsamkeit und Stille. Wessely, ein Arzt aus dem Salzburger Land, bricht in die Vereinigten Staaten auf, um im Alter über seine Zukunft nachzudenken. Mit Everett, dem wortkargen Fahrer des Jeeps, dringt er immer tiefer in die Einsamkeit vor. Doch findet man das erhoffte neue Leben, wenn man nur aus dem alten aufbricht? Walter Kappacher hat einen Roman geschrieben, der ganz auf die Macht der Bilder und auf die Macht der Sprache vertraut, der Heimat und Fremde in eine überraschende und tiefe Beziehung setzt.
Ein eindringlicher Roman des Büchner-Preisträgers über Alter, Altern und den Mut zu Lebensentscheidungen
- Renate von Mangoldt
- Von Achternbusch bis Zanzotto. Autorenfotografien aus fünf Jahrzehnten
- Steidl 2013
- ISBN 978-3-86930-526-4
- € 38.00

"Walter Höllerer war der erste Autor, den ich fotografierte. Aber nicht nur deshalb steht er in meinem Buch auf der ersten Seite, sondern weil ich ihm meine Existenz als Schriftstellerfotografin verdanke. Er holte mich 1964 ins Literarische Colloquium Berlin, und von da an war mein Umfeld das der Literatur." So beschreibt Renate von Mangoldt den Beginn ihrer Arbeit als Autorenfotografin. Fünfzig Jahre hat sie als Zeitzeugin ihr künstliches Auge auf die Welt der Literatur gerichtet; längst haben sich ihre Schwarzweiß-Aufnahmen von Schriftstellern und Schriftstellerinnen dem visuellen Gedächtnis eingeschrieben. Nun ist ein Buch entstanden, ein Kaleidoskop von Bildern aus der Zeit von den 1960er Jahren bis heute: Porträts, Schnappschüsse, Gruppenaufnahmen, Veranstaltungsfotos und im Mittelpunkt stehen immer die Literaturschaffenden. Es ist ein einzigartiges Archiv der deutschen Literatur. Renate von Mangoldt, geboren 1940 in Berlin, Fotografin. Sie war von 1965 bis zu seinem Tod 2003 mit Walter Höllerer verheiratet und hat zwei Söhne. Bei Steidl ist bereits ihr Buch Nachtrag zur S-Bahn (2011) erschienen.
- Leopold Federmair
- Die Apfelbäume von Chaville. Annäherungen an Peter Handke
- Jung und Jung 2012
- ISBN 978-3-99027-029-5
- € 22.00

Wie nähert man sich Peter Handke? Durch eine kurze Allee bei Paris, an deren Ende das Haus des Schriftstellers steht, oder über den Königsweg genauer Lektüre. Der Essayist Leopold Federmair wählt für sein Buch "Die Apfelbäume von Chaville" beide Möglichkeiten. Er besucht Handke mehrere Male, sitzt redend mit ihm im Garten und macht diese Begegnungen zum atmosphärischen Beginn einer ebenso lakonischen wie genauen Auseinandersetzung mit seinem Werk. In sieben weiteren Texten umkreist Federmair zentrale Themen. Es geht um die Kindheit und eine Herkunft zwischen den Kulturen, um den Krieg und das politische Engagement. Wie sehr Leben und Schreiben einander bedingen, macht Leopold Federmair klar, wenn er bis in die Mikrokosmen der Motive und der Sprache Peter Handkes vordringt. Die Aporien entgehen diesem Blick nicht: Handkes Werk entsteht aus Sanftheit und Zorn zugleich, es sucht die Leere der Landschaft, um von der Überfülle des Lebens zu erzählen, und die Einsamkeit, um von Gemeinschaft zu träumen.
Nach Jahren des selbstgewählten Pariser Exils ist Adam Zagajewski nach Polen zurückgekehrt, in seine alte Heimat Krakau, die Stadt süßer Kuchen,/ bitterer Schokolade und schöner Beerdigungen . Dennoch ist ihm die Unruhe, die den Wanderer antreibt , geblieben. In seinen Gedichten ist Zagajewski immer unterwegs: Ob er den Flug der Mauersegler beobachtet oder seinen alten Vater, der das Gedächtnis verloren hat, ob er von der Natur oder Geistigem spricht, von Enthusiasmus oder Melancholie. Die Dichter bauen ein Haus für uns - doch sie selbst/können darin nicht wohnen , schreibt er am Ende dieser persönlichen Auswahl seiner besten Gedichte aus den letzten zehn Jahren.
Marina stammt aus Petersburg und ist zu Besuch in Deutschland, wo sie bei einem Kongress über Daniil Charms und seinen Freundeskreis spricht. Außerdem ist da ein Mann, der in Leningrad Russisch studierte und mit dem sie damals, vor 20 Jahren, eine Liebesgeschichte lebte. Die Vergangenheit ist nicht vergangen und das gilt nicht nur für diese private Geschichte: »Ich habe Angst vor den Geheimnissen der Zeit.« Ein ganzes Jahrhundert (und manchmal auch mehr als das) passiert in den Assoziationen Marinas Revue, und nirgendwo sonst ist dieses letzte Jahrhundert vielfältiger, durch gewaltige Brüche im Sozialsystem fragmentierter gewesen als in Russland: vom Zarenreich über die Revolution, die Sowjetunion, die Weltkriege, die Belagerung Leningrads durch die Deutschen, die Perestrojka
Olga Martynova, Lyrikerin und Essayistin, fächert in ihrem ersten (und auf Deutsch geschriebenen) Roman mit bezaubernder Leichtigkeit das Schwierigste vor uns auf: die vielen Seiten der Vergangenheit, den »Grünspan der Zeit«, dieses Gleiten von Positionen und Ansichten, das nur die Literatur vermitteln kann. Wir lesen nicht nur von den literarischen Avantgardisten rund um Charms und Vvedenskij, von der Gegenwart des Jüdischen in vielen Bereichen der Alltagskultur, wir erfahren auch von Hippies und Landkommunen in Innerasien, von Autostopp-Reisen nach Sibirien und vom buddhistischen Kloster mit dem unverweslichen Lama. Martynovas genauer Blick fördert aber auch überraschende Beobachtungen an ihrer deutschen Umgebung zutage, an diesem an deutsch-russischen Kulturverbindungen interessierten Publikum.
"Sogar Papageien überleben uns" ist ein berührender und überraschender Roman, der auf paradoxe Art ignoriert, was seine Protagonistin einmal fordert, »dass man in den Büchern besser nicht von den komplizierten Sachen schreibt«. Und was wäre komplizierter als das Wandern in die Vergangenheit, als das assoziative Gewebe der Erinnerung, als die Arbeit der Dichter an unserem Gedächtnis?
Die Kindheit ist eine notwendige Bedingung des Staunens. Ist sie erst vorüber, fällt es schwer, sich der Routine des Alltags zu entziehen. In den Gedichten Thomas Rosenlöchers, die in diesem Band versammelt sind, gelingt dies, in jenen aus den Jahren 1988- 1996 wie in den neuen Gedichten. Immer wieder steht die Zeit für einen Moment still, dehnt der Augenblick des Staunens gegen das Alltägliche sich zur Ewigkeit, ob beim Lauschen eines "Allegro Confusio" oder im Schein des Amsterdamer Rotlichts. Vielleicht ja deshalb, weil uns die Kindheit nie ganz verloren geht.
Ein Tag im April und die Macht des Zufalls.
Auf einer Ferieninsel in Tunesien wird im Frühjahr 2002 ein Anschlag auf eine alte Synagoge verübt, bei dem mehrere deutsche Touristen ums Leben kommen. Fünf Jahre später erreicht einen Journalisten in Berlin ein merkwürdiger Anruf. Die junge Frau am anderen Ende der Leitung behauptet, sie müsse ihn dringend sprechen, denn er habe den Tod ihrer Eltern verschuldet ...
Mit der ihm eigenen "verblüffenden Leichtigkeit" der Sprache (Die Zeit) erzählt Gernot Wolfram in seinem zweiten Roman vom Zauber des Südens und dem mutigen Versuch eines jungen Mädchens, mit den Folgen eines schicksalhaften Zufalls fertig zu werden. Das Wüstenhaus ist die Geschichte einer Konfrontation zweier vollkommen unterschiedlicher Menschen auf der Suche nach sich selbst, inmitten einer ihnen fremd bleibenden Kultur.
Der Roman beginnt wie ein Krimi und entwickelt sich zu einem figurenreichen Gesellschaftsdrama. Hauptfigur ist der junge Landpfarrer Ralf Henrichsen, der eines Nachts zu einem Unfallort gerufen wird. Ein Auto ist von der Straße abgekommen und in einen See gestürzt. Der Fahrer hat sich gerettet, seine Frau und sein Sohn werden leblos geborgen. Wie das geschehen konnte, ist unklar. In der Folge der Ereignisse gerät Henrichsen in eine sich ausweitende Sinnkrise.
Heinz Ludwig Arnold war einer der besten Kenner der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und bis zu seinem Tod am 1. November 2011 ihr engagiertester Vermittler. Legendär sind seine ausführlichen Gespräche mit Autoren, die heute moderne Klassiker sind: Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Wolfgang Hildesheimer, Jurek Becker, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Martin Walser, Rolf Hochhuth, Peter Handke. Dieser Band stellt die aufschlussreichsten Gespräche zusammen, viele davon in Buchform unveröffentlicht ein Gipfeltreffen der Literaten, ein Fest für den Leser.
"Meine Gespräche sollten Lektüre nicht ersetzen, sondern darauf neugierig machen als neugieriger Partner der Schriftsteller im Gespräch wollte ich stellvertretend für ihre Leser fragen."
Heinz Ludwig Arnold
Im Norden der Steiermark liegt die Helianau, eine Internatsschule für Kinder, die an einer rätselhaften Störung leiden, dem Indigo-Syndrom. Jeden, der ihnen zu nahe kommt, befallen Übelkeit, Schwindel und heftige Kopfschmerzen. Der junge Mathematiklehrer Clemens Setz unterrichtet an dieser Schule und wird auf seltsame Vorgänge aufmerksam: Immer wieder werden Kinder in eigenartigen Maskierungen in einem Auto mit unbekanntem Ziel davongefahren. Setz beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch er kommt nicht weit; er wird aus dem Schuldienst entlassen. Fünfzehn Jahre später berichten die Zeitungen von einem aufsehenerregenden Strafprozess: Ein ehemaliger Mathematiklehrer wird vom Vorwurf freigesprochen, einen Tierquäler brutal ermordet zu haben.
Und jetzt noch einmal von vorne. Vergessen Sie die Zusammenfassung einer Romanhandlung, die sich jeder Zusammenfassung entzieht, und lesen Sie das Buch. "Indigo" von Clemens J. Setz. Sein viertes insgesamt. Sie werden feststellen: Das "radikale Gegenprogramm zur hübsch verkasteten Literaturwerkstättenliteratur" ("Die Welt") geht weiter. Rasend spannend und so erholsam wie eine gute Massage. Hinterher spüren Sie jeden Muskel.
"Man kommt nicht heil davon weg. Es herrscht Suchtgefahr."
(Andreas Platthaus Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren. Seit 2001 studiert er an der dortigen Universität Mathematik und Germanistik. Er ist Obertonsänger, Übersetzer und Gründungsmitglied der Literaturgruppe Plattform. Zahlreiche seiner Gedichte und Erzählungen wurden in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. 2008 wurde er beim Bachmann-Wettbewerb mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet.