Bücher lesen heißt wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben über die Sterne.
Jean Paul
Buchtipps des Monats - Herbst 2011
Zoomy ist ein seltsamer Junge, stark sehbehindert und mit dem Hang, Notizbücher mit Listen anzulegen. Freunde hat er keine, seine Eltern kennt er nicht und sein Leben spielt sich zwischen seinen Großeltern und der städtischen Bibliothek ab. Per Zufall gelangt Zommy an eine Kiste mit sehr wertvollem, sehr geheimem Inhalt und sein Leben wird gehörig durcheinander gewirbelt. Eine herzerfrischende, vielschichtige und doppelbödige Geschichte, in der das Tagebuch von Charles Darwin eine große Rolle spielt. Ab 10.
Philosophie als Folie für den Roman - ein beliebtes, ein gewagtes Unterfangen. Drohende Aristokratie des Geistes im Bildungsroman. Wird erst Michel Foucault, der Streiter des "Postmodernismus", zum Leithammel des Erzählens, wachsen die Vorbehalte bei manchem Leser sicher ins Bedenkliche. Doch die britische Literaturwissenschaftlerin Patricia Duncker, Dozentin an der University of Yale, zerschlägt solcherlei Bedenken gründlich. Ihr Debütroman "Die Germanistin" (dt. 1997) ist jetzt als Taschenbuch erhältlich und überzeugt mit erzählerischen, nicht mit bildungphiliströsen Mitteln.
Akademischer Muff in Cambridge. Ein Student, der anonyme Ich-Erzähler, arbeitet an seiner Doktorarbeit über den französischen Romancier und politischen Quergeist Paul Michel, als er eine Liebesbeziehung zu einer Kommilitonin eingeht, eben der Germanistin, die ihrerseits über Schiller dissertiert. Die Beziehung läßt sich eigenartig an. Dem Studenten, verknallt über beide Ohren, entrückt seine Germanistin ins Unnahbare, ins Unergründliche. Sie spielt ihre Macht gegen ihn aus und drängt ihn aus zunächst unerklärlichen Motiven zu eingehenderen Recherchen über sein eigenes Dissertationsthema. Ohne recht zu wissen, wie ihm geschieht, reist er nach Paris, um die noch unpublizierten Briefe Paul Michels an seinen Zeitgenossen Michel Foucault zu studieren und um herauszufinden, wo sich der mysteriös Verschollene aufhält, so er denn noch lebt. Tatsächlich findet der Student das Objekt seiner Dissertation in einer Nervenheilanstalt. Endlich die Initialzündung: Aufopfernd bemüht sich der Student um das Wohlergehen des homosexuellen, angeblich wahnsinnigen Schriftstellers, umwirbt und becirct ihn und vergißt im Sog von Wahn und Leidenschaft sukzessive sein Vorhaben, seine Germanistin und schließlich gar die eigene Person.
Wer ist Austerlitz? Ein rätselhafter Fremder, der immer wieder an den ungewöhnlichsten Orten auftaucht: am Bahnhof, am Handschuhmarkt, im Industriequartier ... Und jedes Mal erzählt er ein Stück mehr von seiner Lebensgeschichte, der Geschichte eines unermüdlichen Wanderers durch unsere Kultur und Architektur und der Geschichte eines Mannes, dem als Kind Heimat, Sprache und Name geraubt wurden.
Zusammengehalten wird dieses Unternehmen durch eine einzigartige Sprache: W. G. Sebald ist ein Meister der literarischen Vergegenwärtigung und des Periodenbaus. Der ruhige Wellenschlag seiner Sätze erinnert an eine längst vergangene Kunst, die ins neunzehnte Jahrhundert zu gehören scheint, zu Adalbert Stifter vielleicht. In dieser Sprache wird das Persönliche, das Private, zu etwas schlicht und einfach Vorfallenden, und das Große schrumpft, und doch verliert es nicht das Ungeheuerliche. Diese Sprache bringt alles, was sie berührt, auf mehr oder minder menschliches Maß – auch das Unmenschliche. (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 9. Februar 2008)
Rene Templ, ein Schriftsteller als junger Mann, findet in Karl Senegger seinen Mentor, eine geistige Vaterschaft. Umgekehrt entzieht er sich seiner Verantwortung gegenüber Frau und Kind: Er schrumpft auf die Größe seines Sohnes, sobald er sich als Vater gefordert glaubt. Als Vater wiederum hat Karl Senegger versagt, sein Sohn Viktor springt in den Tod. Eine Kurzschlussreaktion, der finale Abfall der Spannung in einer Verbindung zwischen gleichen wie ungleichen Teilen? Oder der verzweifelte Versuch, sich gegen den zu behaupten, dem man das Leben verdankt? Karl Senegger flüchtet vor seiner Verantwortung. Der Vater, der seinen Sohn verloren hat, wird zum Herausgeber von dessen literarischer Hinterlassenschaft. In vier Erzählungen, die er über ihre Themen, ihre Figuren und Motive zu einem Roman komponiert, zeigt Clemens J. Setz, wie Väter an ihren Söhnen wachsen und Söhne an ihren Vätern und wie sie aneinander zerbrechen.
Dass einer, der 1982 geboren ist, auf Anhieb ein so gescheites Buch über die Dynamik zwischen Vätern und Söhnen schreibt, das findet Richard Kämmerlings beinahe "beängstigend". Dieses Debüt ist seiner Meinung nach eines der besten des Jahres, was nicht nur an der "psychologischen Einfühlungskraft" des Autors liegt oder an seiner sprachlichen Sorgfalt. Clemens J. Setz setze sich über die realistische Tradition des Familienromans hinweg und untersuche multiperspektivisch mehrere Vater-Sohn-Beziehungen, die anfangs nichts miteinander zu tun haben. Wie Planeten aber befinden sich die Figuren dann aber doch alle in einem gemeinsamen Kraftfeld rund um den genialen Jungautor Victor wieder, wie der Rezensent mit Hochachtung feststellt. Das mache den Roman ebenso mehrschichtig wie gehaltvoll und veranlasst Kämmerlings, diesen Erstling als literarische "Geisteskinetik" zu preisen.
In elf miteinander verwobenen Geschichten entwirft Yoko Ogawa eine Alltagswelt, in die unvermittelt etwas Fremdes, Bedrohliches einbricht: Eine Frau möchte zum zehnten Geburtstag ihres Sohnes, der vor Jahren durch einen tragischen Unfall ums Leben kam, in einer Konditorei zwei Erdbeertörtchen kaufen. Doch als sie den Laden betritt, kommt niemand, um sie zu bedienen. Die zierliche Konditorin steht mit dem Telefonhörer am Ohr hinten in der Küche und weint stumm vor sich hin. Einige Jahre zuvor bekommt eine Schriftstellerin von einer alten Witwe, bei der sie zur Untermiete wohnt, eine Karotte geschenkt, die einer menschlichen Hand ähnelt. Sogar die Lokalnachrichten interessieren sich für die merkwürdige Karotte. Doch kurz darauf macht die Polizei im Gemüsegarten der Witwe einen grausigen Fund. Was hat eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, mit einer alten Witwe zu tun, deren Mann vor Jahren unter mysteriösen Umständen verschwunden ist? Yoko Ogawa spinnt ein feines Netz von Geschichten, die in einer rätselhaften Welt spielen. Alle Figuren folgen ihrem eigenen unergründlichen Schicksal, und doch kreuzen sich ihre Wege, während sie wie im Traum an den Abgründen des Lebens entlangwandeln.