Jedes Buch ist eine Hand, die nach unserer Hand greift.
Vilém Flusser
Buchtipps des Monats - Mai 2010
Steht ihnen das grüne Kleid? Hatten Sie es wirklich eilig vor der rot leuchtenden Ampel? Welche Farbe verbinden Sie mit dem Wort „Stille“? Farben gehören zu den unmittelbaren persönlichen Erfahrungen. Gleichzeitig entziehen sie sich am äußersten Rand ihrer Mitteilbarkeit und sind in unserer Lebenswelt doch Kommunikationsmittel. Eng an Gefühle geknüpft, sind Farbtöne Binde-glieder zwischen den Künsten. In den Nuancen wirken sie als Licht, ohne das wir nicht lebensfähig wären. Farben, die uns im Spektrum in bestimmten Wellenlängen begegnen, Zeugen unserer Vergangenheit, die sich mit physikalischen Mitteln nur bedingt beschreiben lassen. Sprache mit Licht und Farbe zu sehen, Worträumen andere Dimensionen zu geben als Ort und Zeit, welche Form würde sich besser eignen als Poesie?
Es sind weder die Situationen noch die Ereignisse, die das Besondere an Walter Kappachers Literatur ausmachen. Es ist vielmehr, wie Peter Handke es charakterisiert hat, „eine Explosion des Schreibens, wie man sie abenteuerlicher nicht wünschen kann“. So ist auch die Ausgangssituation für Kappachers Roman „Selina“ unspektakulär: Stefan, Lehrer, nimmt das Angebot Heinrich Seiferts – den er ein Jahr zuvor in Arezzo kennengelernt hat – an, in sein altes abgelegene Bauernhaus in der Toskana zu ziehen.Der Leser erlebt, wie Stefan sich das Haus und die Umgebung bewohnbar macht, wie er bekannt wird mit den menschen im Dorf, wie er Heinrich besucht, der seine Nichte Selina aus Deutschland erwartet. Es sind die Jean-Paul’schen Themen Liebe, Tod und Unsterblichkeit, die sich langsam entwickeln. Hinter der scheinbaren Beiläufigkeit von Kappachers Erzählen steht tiefer Ernst. Unnachgiebig zwingt der Autor den Leser zur Besinnung. In seinen Texten herrscht eine Ruhe, in der wir unser eigenes Herz schlagen hören.
Walter Kappacher wurde 1938 in Salzburg geboren. Der österreichische Schriftsteller erhielt 2004 den vom Verleger Hubert Burda gestifteten Hermann-Lenz-Preis für seine präzise Erzählweise. 2009 wurde Walter Kappacher mit dem Georg-Büchner-Preis für sein erzählerisches Lebenswerk ausgezeichnet.
Chile, Frühjahr 1973. Politik und Poesie scheinen eins, das Leben ist neu, und jeder träumt von dem großen Gedicht und der erlösen-den Liebe. Wochen später liegt Pinochets Schatten über dem Land, und die jungen Dichter sehen vom Gefängnishof, wie eine alte Messerschmitt Verse in den Himmel schreibt. Am Lenkruder sitzt Carlos Wieder, tollkühner Pilot, futuristischer Dichter und Star des neuen Regimes. Langsam ahnen sie, dass er die Fäden zieht und kein anderer ist als ihr Mitstudent, der misteriöse Taigle. In seinem frühen Meisterwerk zeichnet Roberto Bolaño das Porträt eines dunklen Dandys der Macht und entdeckt die Signatur eines ganzen Kontinents.
Roberto Bolaño, geb. 1953 in Santiago de Chile, gestorben 2003, erhielt 1999 den wichtigsten südameri-kanischen Literaturpreis 'Rómulo-Gallegos'. Lange Zeit lebte er in Mexiko. 1973, während Pinochets Militärputsch wurde er in Chile verhaftet, saß ein halbes Jahr im Gefängnis und ging danach zurück nach Mexiko und weiter nach Spanien.
Im MoMa in New York betrachtet ein Mann eine Installation: Hitchcocks "Psycho", verlangsamt auf eine Spielzeit von 24 Stunden. Und er betrachtet zwei Männer, einen älteren, einen jüngeren, die sich die Installation anschauen. Schnitt. Mitten in der Wüste, "südlich von Nirgendwo", lebt der dreiundsiebzigjährige Richard Elster in einem einsam gelegenen Haus. Hierher hat er sich zurückgezogen, um über Raum und Zeit nachzudenken. Elster, ein Gelehrter, der sich jahrelang mit dem Thema Auslöschung in all seinen Varianten beschäftigt hat, diente der amerikanischen Regierung während des Irakkriegs zwei Jahre lang als geheimer Berater, er sollte ihre Kriegshandlungen mit einem intellektuellen Referenz-rahmen versehen. Als seine Dienste nicht mehr gebraucht werden, zieht er sich in die Wüste zurück.
Dort besucht ihn Jim Finley, ein junger Filmemacher, der Elster von seinem Filmprojekt überzeugen möchte: eine Dokumentation ganz ohne Schnitt, nur eine einzige Einstellung: ein Mann - Elster - vor einer Wand. Keine Fragen aus dem Off, keine Regieanweisung. Zwölf Tage schon diskutieren die beiden Männer, als Elsters Tochter Jessie auftaucht, eine junge Frau aus New York, die die Dynamik der ganzen Geschichte grundlegend verändert. Etwas Unfassbares geschieht, und alles Gesagte wird in Frage gestellt. "Der Omega-Punkt" ist ein tief verstörendes, brillantes Werk über Verlust und Verschwinden von einem der größten Schriftsteller der Gegenwart.