Jedes Buch ist eine Hand, die nach unserer Hand greift.
Vilém Flusser
Buchtipps des Monats - Juni 2009
- Laszlo Krasznahorkai
- Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluß
- Fischer TB 2007
- ISBN 978-3-596-17243-6
- € 14.99

Im Süden Kyotos, an der einschienigen Schnellbahn der Kaihan-Linie gelegen, nur eine Haltestelle außerhalb der Stadt, ist ein Kloster. Eine labyrinthische Steigung führt den Enkel des Prinzen von Genji an diesen abgelegenen Ort. Irgendwo hier müßte er sein, der schönste Garten der Welt. Wie von selbst werden seine Schritte durch die Klosteranlage gelenkt. Eine ausgeklügelte Bauweise hat die Natur in Form gebracht, jedes Ding hat seinen Platz und seine wohlgeformte Gestalt eine Bedeutung an sich. Und so eröffnet sich ein feiner, minutiöser Blick auf die Natur, auf Pflanzen, Wind und Vögel, wie auch auf die Architektur, auf Pagoden, Höfe, Terrassen. Das Kleine groß werden zu lassen, Unauffälliges in den Mittelpunkt zu rücken, die Bedeutung zu erkennen, die selbst dem scheinbar Zufälligen innewohnt, Schönheit im Alltäglichen aufzuspüren und das ordnende Prinzip im angeblichen Chaos zu benennen, all das leistet László Krasznahorkai bei seinem Ausflug in die japanische Landschaft und in Japans Ideen- und Gedankenwelt. Entstanden ist ein literarisches Kleinod von ungekannter Tiefe, ein meditativer Text, der auch europäische Gemüter lehrt, sich in die zirkuläre Denkweise des fernen Ostens einzufühlen.
Lesung am 28. Mai 2009, 20 Uhr im Deutschen Hygiene-Museum Dresden, Lingnerplatz 1
Im überheizten Lesesaal der Public Library in Chicago wechseln sie die ersten Blicke, bei einem Kaffee die ersten Worte: er, ein Schweizer, der über amerikanische Luxuseisenbahnwagen recherchiert, sie, eine amerikanische Physikstudentin, die ihre Dissertation schreibt. Sie gehen zusammen essen, machen Ausflüge in die nahegelegenen Wälder oder spazieren am Lake Michigan entlang. Eines Tages fordert die junge Frau ihn auf, eine Geschichte über sie zu schreiben, damit sie sieht, was er von ihr hält. Schnell zeigt sich, daß Bilder und Wirklichkeit sich nicht entsprechen - und daß die Phantasie immer mehr Macht über ihre Liebesbeziehung erhält.
Im heißen Sommer 2002 stürzt ein Einwohner Oddas mit seinem Wagen in den reißenden Fluss. Es war kein Unfall, und da der Tote Mitglied der Bürgerwehr war, werden bald ein paar Serben aus dem Asylantenheim verdächtigt. Während sich das öffentliche Vorurteil und die Medien auf die Ausländer stürzen, entdeckt der langsame und zähe Robert Bell nach und nach den wahren Grund für den Mord. Die Wahrheit will aber mittlerweile niemand mehr wissen, denn die Medien haben schon längst neue Themen gefunden. Mit seiner Bedächtigkeit hat Bell das Nachsehen, aber nun droht sie ihm auch noch zum Verhängnis zu werden: seit Jahren hat er sich in einer ausweglosen Affäre mit seiner großen Liebe Irene eingerichtet, und als sie spurlos verschwindet, ist das für manche eine hervorragende Gelegenheit, Bell dranzukriegen.
In einem eigenwilligen Ton, mit einer non-chalanten Gelassenheit und einer großen Wahrhaftigkeit schafft Frode Grytten einen markanten und dabei keineswegs zweifelfreien Helden in einer schwierigen Zeit.
In den äußersten Osten der Türkei wird er als Lehrer geschickt, ins Hochgebirge zwischen Felsen und Schluchten, ohne Straße und Strom. Die Menschen sprechen eine fremde Sprache, gehen barfuß im Schnee, und noch kein Städter hat es bisher geschafft, einen Winter lang ihr Leben zu teilen. Er steht vor einer Welt voller Rätsel und Schweigen. Sein Wissen, seine Erinnerungen, all das, was er mitgebracht hat, macht ihn nur einsam und verloren.Doch allmählich taucht er ein in diese Realität jenseits all dessen, was er Zivilisation nannte. Als der Winterschnee schmilzt und man ihm mitteilt, er könne wieder gehen, wohin er wolle, hat er vergessen, daß dieser Ort sein Gefängnis war. Der Lehrer hat manches gelehrt. Aber vor allem hat er gelernt: Wie die Wölfe in die Dörfer kommen und man sich bei minus 25 Grad mit dem eigenen Atem am Leben erhält. Wie man alle Säuglinge sterben sieht, ohne den Verstand zu verlieren, wie man Leid klagt und Geschichten erzählt. Er hat gelernt, wie man es schafft, die Stimmen der Stille und der Hilflosigkeit zu hören.
- Thomas Geiger (Hrsg.)
- Laute Verse. Gedichte der Gegenwart - herausgegeben von Thomas Geiger
- DTV 2009
- ISBN 978-3-423-24692-7
- € 14.90

Die Lyrik gilt derzeit als die Avantgarde der deutschen Literatur. So vital, so experimentierfreudig, so unterhaltsam, so klug wird derzeit nirgendwo sonst die Welt in Worte gefasst. Zwanzig Jahre nach der Wende hat sich eine neue Autorengeneration gebildet. Schädelmagie stellt die wichtigsten jungen Lyriker vor und bietet so einen profunden Überblick über die Lyrik der Gegenwart. Zudem gibt jeder Autor mit der Interpretation eines seiner Gedichte einen Einblick in seine Schreibwerkstatt. Mit Gedichten von Thomas Kling, Durs Grünbein, Marcel Beyer, Volker Sielaff, Christian Lehner, Jan Wagner, Marion Poschmann, Daniela Danz, Raphael Urweider, Kurt Aebli, Silke Scheuermann, Henning Ahrens, Sabine Scho u.a.
Hugo Cabret, seines Zeichens Waisenjunge, Dieb und Wächter der Uhren, lebt verborgen in den Gemäuern des Pariser Bahnhofs. Niemand weiß vonihm, dem Jungen, der alles im Blick behält und sich doch allen Blicken entzieht. Bis ein kühnes Mädchen und ihr bärbeißiger Großvater auf ihn aufmerksam werden. Schlagartig ist in Gefahr, was Hugo so sorgsam hütet: seine geheime Existenz und damit die rätselhafte Zeichnung, das liebevoll aufbewahrte Notizbuch und der mechanische Mann. Jene Dinge, die den Weg zu seinem wohl gehüteten faszinierenden Geheimnis weisen Illustration, Text und Filmelemente grandios kombiniert Rund 200 großartige doppelseitige Schwarzweißzeichnungen erzählen ein Drittel des Buches DAS Meisterstück eines großen Geschichtenerzählers und brillanten Zeichners
August 1924: H. ist auf der Rückreise und macht Halt in Fusch, einem Kurbad in den Salzburger Alpen, wo er mit seinen Eltern vor dem Krieg lange Sommer verbrachte. Inzwischen hat sich viel verändert: Freunde sind ihm abhanden gekommen, sein Ruhm liegt Jahre zurück, sein Schaffen ist bedroht von einer labilen Gesundheit und den leisesten Störungen. Auch im abgelegenen Bad Fusch hat die neue Zeit Einzug gehalten, an der er nur mehr als Beobachter teilnimmt, der sich selbst zunehmend fremd geworden ist. Bei einem Spaziergang wird H. ohnmächtig. Als er wieder zu sich kommt, lernt er den jungen Doktor Krakauer kennen, den Privatarzt einer Baronin. Auch er ist ein Rückkehrer in einer fremden Welt. H. sucht dessen Freundschaft, doch da ist die Baronin und da ist die Einsamkeit, der er nicht mehr entkommt. Walter Kappacher erzählt von einem Leben, das die Zeit überholt hat: mit fesselnder Intensität und luzidem Einfühlungsvermögen, so souverän wie virtuos. Er bestätigt damit seine Ausnahmestellung in der deutschsprachigen Literatur: ein Seltener (Peter Handke). Walter Kappacher erhält den Georg Büchner Preis 2009.